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Vernünftig lockern

Extremismus mochte ich noch nie. Ich meine damit nicht nur politischen Extremismus, sondern die Idee an sich. Die Welt ist kompliziert, die Zusammenhänge sind kompliziert, wir Menschen sind kompliziert. Und ich habe schon immer den Eindruck gehabt, dass Extremismus eine Art Rettungsring für Leute ist, denen so viel Kompliziertheit einfach über den Verstand geht und die es gerne simpler und dümmer hätten. Kann ich nicht einfach eine Meinung haben? OHNE das lästige Nachdenken?

Ja, das klingt jetzt weit weg vom Alltag. Warum das gerade einfällt? Weil ich mich ärgere. Seit Tagen schon. Und über was ich mich ärgere, ist ganz nah dran am Alltag. Die Debatte über Lockerungen bei den Sicherheitsauflagen wegen Covid-19 nämlich.
Und wieder mal sind auch bei dieser Debatte die Extremisten am Lautesten. Und sie drohen, jede vernünftige Debatte, jedes ernsthafte Nachdenken mit ihrem Geschrei zu übertönen.
Das eine Extrem: Die Verfechter einer sofortigen, größtmöglichen Rückkehr zur Normalität. Ich meine damit gar nicht die Spinner, bei denen die Erde eine Scheibe, ein Kondensstreifen ein Chemtrail und der Coronavirus eine Erfindung der Regierung ist. Nein, ich meine auch die, die zwar vor einigen Wochen noch alle Sicherheitsvorkehrungen mitgetragen haben, sich es jetzt aber anders überlegen. Die Infektionszahlen gehen doch runter! Und außerdem geht das doch schon so lange, das wird ja langweilig, wir wollen jetzt wieder etwas anderes haben. So, als sei Covid-19 eine schlechte TV-Show: Wenn es einem nicht mehr passt, schaltet man um.
Das andere Extrem: Die Verfechter extremer Sicherheitsauflagen. Die, die wochenlang nicht einmal allein einen Fuß vor die Türe setzen wollten, die gerne einen weit strengeren Shutdown hätten, und den, bis das Virus draußen völlig verschwunden ist. Auch diese Meinung wird ganz schön radikal vertreten. Wer als Politiker heute auch nur über mehr Präsenzunterricht oder mehr Kita-Betreuung nachdenkt, wird da schon mal als potenzieller Massenmörder beschimpft. Ich übertreibe nicht.

Und es ärgert mich eben, dass bei dieser wichtigen, wirklich sehr wichtigen Debatte schon wieder die den Ton angeben, die nur Schwarz oder Weiß malen können, die nur ganz oder gar nicht kennen. Die einen wollen am liebsten im Bunker sitzen, die anderen morgen wieder in den Biergarten und ins Fußballstadion und die nächsten fordern, dass man ja schon Einschränkungen brauche, überall. Nur bitte nicht auf dem Gebiet, das ihnen selbst gerade wichtig ist.
Noch einmal. Das ärgert mich. Ist es denn so schwer, sich einmal in Ruhe zu überlegen, um was es bei Auflagen wie Lockerungen eigentlich geht? Es geht nicht um Extremismus, und es geht auch nicht ums Rechthaben und es geht auch nicht darum, sich als harter Hund und Coronasherrif zu profilieren. Oder als Volkstribun, der auf Beifall hofft, wenn er gegen Auflagen wettert.

Nein, es geht um etwas ganz anderes: Wir wollen, wir müssen dieses Land am Laufen halten, wir müssen mit dem Virus leben. Und wir wollen und müssen gesund bleiben und die gesundheitlichen Risiken im Zaum halten. Wir müsse das eine tun, ohne das andere zu lassen. Wir sind auf einer Gratwanderung, aber wir wollen auch auf diesem schmalen Grat vorankommen. Deswegen müssen wir auf unsere Schritte achten. Und auf einem schmalen Grat bleibt man am besten in der Mitte. Eben nicht ganz links oder rechts, bei den Extremisten. Die laufen Gefahr, abzustürzen.
Abwägung ist gefragt, und die ist eigentlich nicht so unlösbar schwer. Sie findet doch auch schon statt! Alten- und Krankenpflege, medizinische Versorgung, ja selbst ein Zahnarztbesuch sind ganz schön riskant. All das muss aber sein, deswegen fand und findet das auch statt. Ein Rave, eine Schaumparty in der Disko, auch eine dichtgepackte Fantribüne beim Fußball sind auch ganz schön riskant. Und müssen nicht sein. Darum finden sie nicht statt.

Und wenn wir nun zwischen diesen beiden Extremen ein Koordinatensystem ziehen würden, könnten und können wir doch alle möglichen Lockerungen genau an diesen Koordinaten messen. Beispiel: Tennisspielen muss sicher nicht sein. Aber es ist auch kaum riskant, wenn zwei Spieler mit 20 Metern Abstand auf dem Platz stehen. Ringkampf? Muss nicht sein und ist leider auch sehr riskant. Also Tennis, aber nicht Ringen? Ja warum denn nicht? Den Unterschied versteht doch jeder!

Kommen wir zu wichtigeren Dingen (Sorry, liebe Ringer und Tennisspieler!): Je länger der Ausnahmezustand andauert, je mehr aber auch Eltern wieder in ihre Berufe zurückkehren, desto dringender fehlt jungen Familien die Betreuung ihrer Kinder. Kinderbetreuung ist wichtig, in einer Kita aber ganz schön riskant, deswegen findet sie nicht oder nur sehr eingeschränkt statt. Aber stellen wir uns mal vor, zwei oder auch drei Familien stecken ihre Kinder wenigstens ab und zu mal zusammen und sorgen für eine gemeinsame Betreuung. Abwechselnd ist das für alle Familien eine ungeheure Erleichterung, und die Kinder haben den so wahnsinnig nötigen Kontakt zu Gleichaltrigen. Nicht nur, dass ich das Risiko in diesem Fall für deutlich überschaubarer halte als in einer großen Kita-Gruppe, nicht nur, dass die Nahverfolgung einer Infektionskette in diesem Fall wesentlich leichter wäre – ich habe auch die Ahnung, dass dieses Modell unsere Erfolge im Kampf gegen die Pandemie nicht erheblich verringert. Warum? Weil viele Eltern, viele Familien das ohnehin schon machen. Aus schierer Not.

Weiter geht es an den Schulen. Es gibt nun einmal viele Schritte zwischen „Alles zu“ und „Alles wie früher“. Schichtmodelle sind machbar, auch Mischungen von Präsenzunterricht und digitalem Unterricht. Und zwischen dem vollen Klassenzimmer und dem alleine zu Hause büffeln sind auch Kleingruppen denkbar. Nicht nur denkbar, meine ich, sondern dringend nötig. Nur so haben auch Schüler wieder ein wenig direkten Austausch, und nur so erhalten auch diejenigen Hilfe, die zuhause benachteiligt sind. Der digitale Unterricht hat nicht nur Schwächen in der Ausstattung der Schule offenbart. Wir haben auch gelernt, dass zwar fast jeder Schüler ein Handy, aber eben längst nicht jeder einen Laptop zuhause hat. Und ja, es gibt auch Familien, die gar kein Internet haben. Und wer jetzt „selbst schuld!“ denkt, sollte nochmal ganz scharf nachdenken.

Das war jetzt ganz schön viel Text, aber das musste sein. Denn ich will nicht gegen den Chor der Extremisten anschreien und schon gar nicht in diesen Chor einstimmen.
Ja, ich bin für Lockerungen. Aber ich bin nicht aus Prinzip für Lockerungen, so wenig, wie ich aus Prinzip gegen sie bin. Ich bin dafür, mit Vernunft und guter Beratung nachzudenken, wo wir auf welchem Weg, mit welchen Schritten lockern können. Vielleicht nicht heute und nicht morgen, vielleicht erst, wenn wir wieder mit Sicherheit sagen können, wie sich die Coronalage entwickelt. Und es macht auch Sinn, vorsichtig und behutsam voranzugehen.
Aber wir können vorankommen. Und wir sollten auch öffentlich darüber nachdenken dürfen, wie. Irgendwo zwischen den „Lockerungsorgien“, der „inszenierten Corona-Panik“ dem „versuchten Massenmord“, irgendwo dort ist ein vernünftiger Weg. Und wen die Schreihälse auf beiden Seiten ein wenig leiser wären, könnten wir sogar in Ruhe darüber reden.

Euer
Andreas Stoch

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