Niemandem steht es zu, von den Menschen in der Ukraine Mäßigung einzufordern. In einem Land im Krieg, in dem Bomben auf Häuser fallen, täglich Hunderte sterben müssen, in einem Land, in dem ein ausländischer Aggressor Tod und Terror verbreitet – in diesem Land herrscht Verzweiflung. Und wer das versteht, der versteht sicher auch, warum der ukrainische Präsident so eindringliche Forderungen stellt, warum sein früherer Botschafter Andrij Melnyk nicht unbedingt durch Diplomatie auffiel. Die Ukraine bittet nicht um Hilfe. Sie schreit danach. Und keine Hilfe wird der Ukraine ausreichend erscheinen, so lange dieser Krieg tobt. Wer will es den Menschen verübeln?
Diese Verzweiflung führt auch zu bitterer Häme. Kurz vor Beginn des Kriegs erregten sich viele Ukrainerinnen und Ukrainer in den sozialen Medien über die Illusionen des französischen Staatspräsidenten. Emmanuel Macron hielt viel auf seine Verbindungen in den Kreml, wieder und wieder telefonierte er mit Russlands Präsident Putin, wieder und wieder hoffte er, das werde irgendetwas bewirken – was es leider nicht tat. In der Ukraine tauchte im Netz ein neues Wort auf: „Macroniti“, auf Englisch „Macroning“. Es sollte bedeuten: „Über eine Situation sehr besorgt sein, aber nichts unternehmen“.
Kommt uns bekannt vor? Stimmt. In der Debatte um die Lieferung deutscher Kampfpanzer in die Ukraine tauchte in der Ukraine wieder ein neues Wort im Netz auf. „Scholzing“ soll bedeuten, dass man zwar etwas Gutes will, aber lange zögert und nicht erklärt, warum.
Den Rest kennen wohl alle: Timothy Garton Ash, ein britischer Historiker, Publizist sowie erklärter Fan von Angela Merkel, machte den Begriff in Deutschland bekannt, und nicht nur die besonders konservativen Medien jauchzten. Mehr noch: Neben dem Spott gab es auch ernsthafte Sorgen um das Ansehen Deutschlands in der Welt.
Nur warum? Außerhalb Frankreichs hat das „Macroning“ nie Wellen geschlagen, selbst in der Ukraine war der Begriff nach wenigen Tagen von neuen, anderen Memes zugeschüttet. Und auch das „Scholzing“ hat nirgendwo sonst ein ähnliches Echo wie in den deutschen Medien. Die wiederum rutschen seit Jahren stetig in eine Art innenpolitische Nabelschau ab. Das ist lästig genug, doch wenn es um internationale Probleme oder den Frieden auf der Welt geht, kommt es eben längst nicht nur auf die Berliner Szene an.
Tagelang gab es quer durch die Medien eine Art Wettbewerb, wer am lautesten und vehementesten „Leoparden sofort“ brüllen konnte – die Fraktion „erst mal Hirn einschalten“ blieb hingegen merkwürdig stumm. Dabei gab und gibt es gute Gründe, warum Deutschland in diesem Konflikt alle seine Schritte genau mit seinen Partnern abstimmen muss. Warum Alleingänge unsinnig wären. Es geht nicht um Schlagzeilen für deutsche Medien, sondern um Hilfe für ein überfallenes Land und seine Menschen.
Außerdem: Was wäre denn die Alternative zum „Scholzing“? Etwa „Merzing“? Im Frühjahr 2022 forderte CDU-Chef Friedrich Merz ein sofortiges Gasembargo gegen Russland. Derselbe Friedrich Merz, der dann den ganzen Sommer über russische Horrorvisionen wiederholte, Deutschland werde im Winter ohne Strom und Wärme dastehen. Derselbe Friedrich Merz, der wiederholt den Ausstieg aus der Energiewende forderte, eine Rückkehr zur Atomkraft.
Derselbe Friedrich Merz, der unter Missachtung sämtlicher diplomatischer Regeln einen Schaubesuch in Kiew absolvierte, ehe die deutsche Staatsspitze dort gewesen war. Im Gepäck hatte er nichts, aber zwei Dutzend Journalistinnen und Journalisten im Tross.
Derselbe Friedrich Merz, der im Sommer 2022 behauptete, ukrainische Flüchtlinge betrieben einen „Sozialtourismus“ und pendelten zwischen der Ukraine und Deutschland – nachgewiesenermaßen ein von der russischen Propaganda verbreitetes Märchen.
All das war und ist „Merzing“. Da geht es nicht um Hilfe für ein überfallenes Land, sondern um Schlagzeilen für deutsche Medien. Wirklich geleistet hat das „Merzing“ kein bisschen, während die Bundesregierung bei allem angeblichen „Scholzing“ enorm viel bewirkt hat. Kein Blackout und keine leeren Gasleitungen, eine nachhaltige und wirksame Hilfe für die Ukraine, eine verlässliche Aufnahme für Geflüchtete. Und ja, nach einigen Tagen sorgfältiger Abstimmung, auch Kampfpanzer für die Ukraine.
Und ehe ich es vergesse: Wenn der Bundeskanzler so enorme und folgenreiche Weichenstellungen wie die Lieferung von Kampfpanzern im Stegreif entscheiden muss, weil selbst einige Tage Prüfung und Abstimmung schlimmes „Scholzing“ sind – was ist dann hier in Baden-Württemberg mit dem „Kretsching“? Da haben wir einen grünen „Landesvater“, der ja ebenfalls immer das Gute will, es aber dabei bewenden lässt, es zu wollen. Und wenn man beim „Scholzing“ vielleicht mal ein paar Tage zögert, dauert es beim „Kretsching“ gerne ein Jahrzehnt und länger. Energiewende, Verkehrswende, Bürokratieabbau, Volksabstimmungen… ich mag hier gar nicht aufzählen, was im „Kretsching“ schon alles angekündigt wurde, ohne dass jemals irgendetwas in die Tat umgesetzt wurde. Freilich gehört zum „Kretsching“ ein jederzeit wortreiches Klagen und Jammern. Oh weh, wir können nichts tun, alle anderen sind schuld, wir würden ja so gerne aber keine Kompetenz kein Geld keine Handhabe leiderleider… Wenn die Bundesregierung so agieren würde, säßen wir jetzt wirklich im Dunkeln. Und der Kanzler würde erklären, dass Putin schuld ist. Aber wie schön, dass man sich über das „Scholzing“ auslassen kann.
Das war’s mit dem Stoching für heute.
Euer Andreas Stoch.