Es wäre falsch, wenn ich behaupten würde, die merkwürdigen Äußerungen von Winfried Kretschmann über den Rechtsstaat in der Pandemie hätten mich nicht überrascht. Andererseits haben sie mich auch nicht allzu sehr gewundert.
Überrascht hat mich vor allem, dass Aussagen wie diese einem ganzen Stab an Mitarbeitern durch die Finger rutschen konnte, der akribisch das Image des stets weisen und philosophischen Landesvaters pflegt, jenem Winfried Kretschmann, der immer genau die Balance zwischen „konservativ genug“ und „grün genug“ hält, niemanden verprellt, nie wirklich aneckt. Dieser Stab ist nicht ganz klein, aber niemand scheint sich das Interview in den beiden Stuttgarter Zeitungen genau angeschaut zu haben. Das wundert mich.
Gar nicht verwundert bin ich hingegen von den Positionen, die Winfried Kretschmann so unverblümt ausgebreitet hat und für die er bundesweit harsche Kritik erntete. Und ich sage gleich: Ja, ich schließe mich dieser Kritik an, ich werde hier aber nicht zu den größtmöglichen Schlägen ausholen. Denn ich unterstelle Winfried Kretschmann weder bösen Willen noch verfassungsfeindliche Machtgelüste. Wohl aber muss ich einmal mehr ein geballtes Unverständnis attestieren. Winfried Kretschmann hat nicht wirklich verstanden, wie unser Staat funktioniert. Und bei den Grünen ist er damit leider nicht allein.
Ich muss kurz ausholen: Die Grünen wurden als Partei in und nach der Ära Kohl groß, jener Phase, in der Deutschland die elementaren Probleme der Nachkriegszeit lange hinter sich gelassen hatte und man viele Herausforderungen an den Staat für abgehakt hielt. Weniger Staat war die Devise, Privatisierung, unser Land warf damals viele Instrumente aus dem Fenster, die wir heute schmerzlich vermissen: Eine Bundespost, die überall für schnelles Internet sorgt, eine Bundesbahn, die für anständige Züge sorgt, staatliche Wohnbaukonzerne…
Die Grünen hatten gewiss nichts mit Helmut Kohl am Hut. Nicht mit der Atomkraft und nicht mit Atomwaffen, nicht mit Waldsterben und Gorleben. Aber sie demonstrierten und protestierten als eine Bewegung, die eben noch sehr lange keine Regierungsverantwortung tragen würde. Und selbst die, gegen die sie damals demonstrierten, beschnitten ihre eigene Verantwortung und hinterließen ein Land, in dem der Staat als Vertretung des Volks zunehmend weniger zu sagen hatte und in dem ungeheure Freiräume für privatwirtschaftliche Großkonzerne geschaffen wurden. Die Grünen hatten das lange nicht im Visier, ihnen ging es um sauren Regen und Tempo 100 auf der Autobahn.
Ja, das ist lange her, sehr lange sogar. Aber ich habe den Eindruck, dass nicht nur viele Grüne der ersten Stunde (da zähle ich Winfried Kretschmann mal dazu) bis heute nicht so richtig angekommen sind auf der Kommandobrücke eines Staates. Dass sie nicht wirklich verstehen, wie all das funktioniert. Und dass sie massive Probleme haben, wenn es darum geht, nicht nur einfach Kurs zu halten, sondern eine neue Richtung einzuschlagen. Mehr noch: Was die Möglichkeiten der Politik angeht, sitzen die Grünen heute zwar in allen Parlamenten der Republik, doch die Attitüde ist oft die der Demonstrierenden geblieben. Man fordert und verurteilt, man wünscht und hofft, man schlägt vor und lehnt ab – aber so richtig regeln will man es nicht.
Ein Großteil der Kritik, die wir als SPD an den Grünen üben, geht wieder und wieder auf diesen Umstand zurück. Man schafft Pilotprojekte und Versuche, man startet Dialoge, man appelliert und wünscht. Aber davon wird weder der öffentliche Verkehr besser noch werden genügend Wohnungen gebaut, so kommt kein schnelles Internet aufs Land und die Schulen werden auch nicht besser. Und den Ministern fällt dann nichts anderes ein, als die Entwicklung zu verurteilen und an die privaten Anbieter zu appellieren. Gerade so, als säße man noch mit dem Protestplakat auf der Straße, nicht so, als sei man der, der es in die Hand nehmen kann und muss.
Auch diese Fehleinschätzung staatlicher Möglichkeiten ist kein böser Wille, sie gründet einfach nur in elementarem Unverständnis. Und genau deswegen ist es auch kein Widerspruch wenn die Grünen staatlichem Handeln einmal viel zu wenig zutrauen und dann plötzlich auf die Gewaltenteilung und die rechtsstaatlichen Fundamente unseres Landes pfeifen wollen, so wie Winfried Kretschmann es jetzt getan hat. Und noch einmal: Das war allen Entschuldigungen zum Trotz kein Missverständnis, und es war auch keine Premiere.
Im Frühjahr 2020 kam die Pandemie über uns, es wurde klar, dass es entschlossene Schritte gegen eine ungebremste Ausbreitung des Virus würde geben müssen. Gerade in dieser Zeit, in der derart einschneidende Entscheidungen zu treffen waren, kamen aus den Grünen wieder und wieder Vorstöße, den Landtag doch gar nicht erst zusammentreten zu lassen. Man könne das ja alles über den Infektionsschutz verordnen, habe ich damals gehört, ein grüner Kollege sagte mir: „Wir im Parlament sind jetzt ja nicht so wichtig!“. Auch er hat es sicher nicht bös gemeint. Aber auch er lag unglaublich falsch. Damals, das gebe ich zu, habe ich gestaunt über so viel brachiales Unverständnis für die Regeln, nach denen unser Land regiert wird. Und ich staunte über das grüne Selbstverständnis im Land: Wir machen eh, was wir wollen, und das Kasperletheater mit dem Landtag können wir uns eben nicht leisten, wenn es mal wirklich wichtig wird.
Über ein Jahr ist das her, und dass die jüngste Landtagswahl nicht dazu beigetragen hat, diesem grünen Selbstverständnis einen Dämpfer zu verpassen, ist bekannt. Nun also stellt auch Winfried Kretschmann ganz offen infrage, warum er sich überhaupt noch mit rechtsstaatlichen Instanzen abgeben sollte, die ihm im Zweifelsfall nicht zustimmen könnten. Gerichte, die nächtliche Ausgangssperren kassieren? Die corona-geschädigten Branchen Schadensersatz zusprechen könnten? Das hätte Kretschmann gerne aus der Welt, so eine Pandemie ist ja auch ohne demokratische Kontrollen schon anstrengend genug, oder?
Ich weiß nicht, wie oft ich die Grünen schon als Schönwetterpolitiker bezeichnet habe. So lange alles gut von alleine läuft, macht man ein bissel Wolfsansiedelung hier und ein bissel was gegen Schottergärten da, fährt durchs Land und lässt sich feiern. Hauptsache, es wird nicht brenzlig. Das ist schlimm genug. Noch weit schlimmer ist es aber, wenn man auch ein Schönwetter-Rechtsstaatler ist. Kontrolle durch Parlamente? Durch die Opposition? Durch Gerichte? Alles gut, aber doch nicht, wenn es brenzlig wird!
Ich mache mir keine Sorgen, dass Winfried Kretschmanns Fantasien über allmächtige und nicht mehr kontrollierte Pandemieregime Wirklichkeit werden könnten. Da ist unsere Verfassung vorbereitet. Sorgen mache ich mir aber über den unglaubliche Flurschaden, den seine bedenklichen Äußerungen im Land hinterlassen. Ich meine damit nicht jene Schwurbler, bei denen sowieso Hopfen und Malz verloren ist, sondern Bürgerinnen und Bürger, die all den nötigen Einschränkungen in der Pandemie bei aller Disziplin kritisch und argwöhnisch gegenüberstanden. Das ist ihr gutes Recht, und es war und ist ihr gutes Recht, staatliche Maßnahmen zu hinterfragen und im Notfall auch dagegen zu klagen. Und Urteile wie das gegen die nächtliche Ausgangssperre sind für eine Regierung zwar lästig, aber ein wichtiger und eindrucksvoller Beweis für das Funktionieren unserer Gewaltenteilung. Wenn eine einzelne Person eine nicht angemessene Anordnung des Staates abschaffen kann, stärkt das das Vertrauen in den Rechtsstaat. Und genau dieses Vertrauen, das in der Pandemie so viel gelitten hat, das man pflegen und hegen muss – genau dieses Vertrauen verspielt Winfried Kretschmann mit seinen bizarren Notstands-Fantasien.
Noch einmal: Ich denke nicht, dass Winfried Kretschmanns Zerknirschung nach dem bundeswieten Entsetzen über sein Interview die reine Schau war. Und ich glaube nicht, dass er sich eine „Corona-Diktatur“ wünscht, von der sonst nur auf einschlägigen Demos geschwurbelt wird. Ich fürchte aber, dass dieser gewaltige Tritt in den Fettnapf einem gewaltigen Unverständnis für unseren Staat entstammt, für seine Ideale und seine Errungenschaften. Dafür, dass es keine Fehlkonstruktion ist, wenn sich Regierungen GERADE in Notlagen mit Parlamenten, Gerichten und klagenden Bürgern herumschlagen müssen, sondern dass es eine Errungenschaft ist.
Ich würde mir wünschen, dass die Grünen bei allem gigantischen Selbstbewusstsein noch einmal genau über ihr Verständnis vom Staat nachdenken. Es gibt genügend Punkte, an denen die Landesregierung entschlossener Handeln könnte, für unsere Schulen, für bezahlbaren Wohnraum, für den Schutz des Klimas, für den Erhalt von Arbeitsplätzen in der Transformation, für bessere Gesundheit und Pflege… Hier könnten sie gerne entschlossener „durchregieren“, von unserer Seite gäbe es da sicher keinen Widerstand. Klar muss den Grünen aber sein, dass jedes politische Handeln in unserem Land der Kontrolle anderer Gewalten unterworfen ist, der Kontrolle von Gerichten, auch der Kontrolle durch Parlamente. Das verhindert keine sinnvolle Politik, das sichert sie vielmehr. Und zwar gegen Willkür.
Das müssen sich die Grünen grundsätzlich durch den Kopf gehen lassen, das muss auch Winfried Kretschmann verstehen. Und bis er das verstanden hat, würde ich an seiner Stelle erst einmal den Mund halten, wenn es um den Rechtsstaat geht. Wie heißt es so schön: Wenn Du geschwiegen hättest…
Euer Andreas Stoch