Landtagsfraktion

Landespressekonferenz: Fraktionen von SPD und FDP zum Pflegenotstand in Baden-Württemberg

Angesichts des Pflegenotstands und nach einer fachlichen Evaluation der Umsetzung der Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission zum Thema Pflege aus dem Jahr 2016 äußerten sich die Vorsitzenden der Landtagsfraktionen von SPD und FDP/DVP, die zuständigen Fachabgeordneten sowie Pflegeexperten und erhoben Forderungen gegenüber der Landesregierung.

Andreas Stoch, Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion, erklärt: „Der Südwesten braucht einen Neustart in der Pflege! Baden-Württemberg ist wie kaum ein anderes Bundesland vom Pflegenotstand betroffen. Bürgerinnen und Bürger, die jetzt pflegebedürftig werden, warten teilweise monatelang auf einen Platz im Pflegeheim. Ihre Rechtsansprüche aus der Pflegeversicherung können sie in Baden-Württemberg erst gar nicht mehr einlösen. Dieser Pflegenotstand ist hausgemacht: Weil die Landesregierung die Pflegeausbildung über Jahre vernachlässigt hat, geht die Zahl der Pflege-Auszubildenden in Baden-Württemberg im Unterschied zum Bundestrend zurück. Pflegebedürftige werden im Südwesten besonders stark zur Kasse gebeten. Zudem zahlt das Land im Bundesvergleich relativ geringe Förderungen für die Pflege. Die SPD kämpft daher für eine deutlich höhere Förderung der Kurzzeit- und der Tagespflege und für mehr Engagement in der Pflegeausbildung, auch in den Helferberufen. Zudem braucht es dringend eine bessere Pflegeberatung, damit mehr Pflegebedürftige bis zu ihrem Lebensende zu Hause leben können, eine bessere Pflegeplanung und auch eine Entlastung bei den Heimkosten. Zur Pflegeassistenz, zu der Minister Lucha nach wie vor keine Novellierung auf den Tisch gelegt hat, haben wir im letzten Frühjahr einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht.“

Der Vorsitzende der FDP/DVP-Fraktion, Dr. Hans-Ulrich Rülke, fordert: „Sechs Jahre nach Abschluss der Enquete-Kommission Pflege hat sich die Situation im Land deutlich verschlechtert. Die Situation in der Altenpflege ist dramatisch. Die Landesregierung hat die Impulse der Kommission nicht genutzt, um die Situation in der Pflege in Baden-Württemberg zu verbessern. Im Gegenteil, die Entwicklung in den letzten Jahren führt mehr und mehr zu einem Pflegenotstand. Der Pflegenotstand trifft unser Land mittlerweile an allen Ecken und Enden. Wir fordern eine sofortige Entlastungsoffensive und haben bereits im vergangenen Sommer ein 10-Punkte-Akut-Programm zur Altenpflege vorgelegt. Darin fordern wir unter anderem, die Ausbildungskapazitäten zu erhöhen, Anerkennungsverfahren ausländischer Fachkräfte zu beschleunigen und endlich unnötige Bürokratie abzubauen. Stattdessen kam die Landesregierung über einen Flickenteppich zeitlich befristeter Förderprogramme im Pflegebereich nicht hinaus. Struktur und Planungssicherheit auf Basis vernünftiger Vorausberechnungen für die Altenpflege lassen sich auch nach wie vor nicht erkennen. Wir müssen nach den Hochrechnungen davon ausgehen, dass wir in Baden-Württemberg unter Berücksichtigung des demografischen Wandels bis 2040 einen zusätzlichen Beschäftigungsbedarf in der ambulanten und stationären Pflege von rund 95.000 bis 129.000 Arbeitskräften benötigen. Eine enorme Zahl, bei der die Landesregierung endlich reagieren sollte.  Wo bleiben die Aktivitäten der Landesregierung, um Pflegende, Pflegebedürftige und Angehörige endlich zu entlasten? Als aktueller Vorsitzender der Gesundheitsministerkonferenz muss Minister Lucha Impulse für Verbesserungen der Pflege erreichen, beispielsweise bei der Gewinnung ausländischer Arbeits- und Fachkräfte in der Pflege.“

Florian Wahl, Vorsitzender des Ausschusses für Soziales, Gesundheit und Integration des Landtags von Baden-Württemberg und Sprecher für Gesundheit und Pflege der SPD-Fraktion, kritisiert: „Die Empfehlungen der Pflegeenquete wurden nicht oder nur unzureichend umgesetzt. Dafür ist Sozialminister Manfred Lucha verantwortlich. Unser Sachverständiger Herbert Weisbrod-Frey hat in seinem Gutachten drei Schwerpunkte herausgearbeitet: Erstens wir haben in Baden-Württemberg einen gravierenden Mangel an Plätzen in den Pflegeheimen, ganz speziell in der Kurzzeitpflege, und in der Tagespflege sowie zu wenig Kapazitäten in den ambulanten Pflegediensten und bei den hauswirtschaftlichen Hilfen. Denn die Landesregierung hat keine wirksamen Instrumente, um bedarfsgerecht zu planen. Zweitens wir haben im Vergleich mit den anderen Bundesländern den höchsten Fachkräftemangel in der Pflege, weil unsere Landesregierung die Ausbildung in der Pflege schlecht ordnet, sich zu wenig um eine ausreichende Anzahl an Lehrkräften für die Pflegeausbildung kümmert, die Ausbildung in der Pflegeassistenz bzw. der Altenpflegehilfe nicht reformiert und zu lange Verfahren bei der Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen hinnimmt. Und drittens: wir haben zu wenig Beratung für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen, weil es die Landesregierung bei den Mindeststandards belässt, die von den Pflegekassen finanziert werden. Insbesondere das Landespflegestrukturgesetz, mit dessen Hilfe Minister Lucha Änderungen zur Versorgungsstruktur und zur Pflegeberatung durchsetzen wollte, war ein Schlag ins Wasser.“

Jochen Haußmann, Parlamentarischer Geschäftsführer und stv. Vorsitzender der FDP/DVP-Fraktion sowie Sprecher für Gesundheitspolitik, sagt dazu: „Die Empfehlungen der Pflege-Enquete des Landtags aus der vorletzten Legislatur sind nicht im notwendigen Maße umgesetzt. Das zeigt auch das Kurzgutachten von Tilman Kommerell, damaliger externer Sachverständiger der Enquete-Kommission Pflege, der sich in seiner Analyse mit den Themenfeldern des Enqueteberichts beschäftigt hat. Statt des geforderten Bürokratieabbaus kommt immer mehr Bürokratie für Träger und Beschäftigte dazu. Wir haben bei der Landesregierung kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Es gäbe viele Stellschrauben, etwa die Flexibilisierung der Fachkraftquote, die Förderung von Digitalisierung, die schnellere Anerkennung ausländischer Abschlüsse oder die Konsolidierung der Aufsichtsmaßnahmen – aber das Land bleibt bei der Entlastung der Pflege weit hinter den Notwendigkeiten zurück. Die Landesregierung hat den demografischen Wandel komplett verschlafen und muss jetzt endlich mehr gegen den pflegerischen Personalmangel tun. Ohne Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften nach Baden-Württemberg sind die Herausforderungen der kommenden Jahre nicht zu stemmen. Dafür müssen Anwerbeprogramme aufgelegt und Anerkennungsverfahren für ausländische Beschäftigte vereinfacht werden, denn: Bürokratie darf nicht zum Verhinderungsgrund für eine zügige Integration in einen stark belasteten Arbeitsmarkt führen. Es gibt hier bereits gute Ansätze, die wir nutzen sollten. Deshalb fordern wir nicht nur einen Pflegegipfel, sondern einen Runden Tisch Arbeits- und Fachkräftegewinnung für die Gesundheitsberufe. Dringend notwendig ist außerdem, dass die Ausbildungszahlen erhöht und Teilzeitausbildungen ermöglicht werden. Wir haben keine weitere sechs Jahre Zeit, um diese Entwicklungen in der Pflege weiterhin auszusitzen!“

Herbert Weisbrod-Frey, externes Mitglied der Pflege-Enquetekommission, ehemals Bereichsleiter Gesundheitspolitik bei ver.di, ergänzt: „Das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg ist nicht ernsthaft an die Umsetzung der von der Enquete Kommission erhobenen und vom Landtag einvernehmlich verabschiedeten Forderungen herangegangen. Beispielsweise hat die Sicherstellung flächendeckender wohnortnaher gemeinde- und stadteilbezogener Angebotsstrukturen in der Pflege nicht stattgefunden. Ein Pflegemonitoring, das die Versorgungslücken aufzeigen könnte, wurde von der Landesregierung nicht eingeführt.“

Der Pflegefachmann und ehemalige Pflegeschulleiter Tilman Kommerell, der Sachverständiger in der damaligen Enquete-Kommission war, resümiert: „In den letzten sechs Jahren sind über die Handlungsempfehlungen hinaus weitere Herausforderungen in der Pflege hinzugekommen. Umso wichtiger wäre es gewesen, wesentliche Handlungsempfehlungen umzusetzen. Die Entwicklung der Pflege in Baden-Württemberg ist besorgniserregend und es drohen akute Versorgungsengpässe. Bürokratieaufwand, starre Regelungen, Kostendruck, Fachkräftemangel und viel zu hohe Hürden für ausländische Hilfs- und Fachkräfte kennzeichnen die alarmierende Situation im Gesundheits- und Pflegebereich. Aus dem BARMER-Pflegereport 2022 geht beispielsweise hervor, dass in acht Jahren 710.000 Menschen in Baden-Württemberg auf Pflege angewiesen sein werden. Das sind 127.000 Pflegebedürftige mehr als bisher angenommen. Darauf muss reagiert werden.“