Ich habe mir lange überlegt, ob ich überhaupt etwas zu den sogenannten „Corona-Demonstrationen“ schreiben soll, denn die haben schon jetzt weit mehr Aufmerksamkeit erhalten, als sie verdienen. Aber nicht nur die Demonstrationen werden immer wirrer, sondern auch die Debatten darüber.
Als vor vielen Jahren die unsäglichen „Pegida“-Demonstrationen begannen, da begannen sie vor allem in den östlichen Bundesländern. Und ich konnte mir zumindest ganz gut vorstellen, warum das so war: Viel Einheitsfrust und gebrochene Biographien, auch die für viele offenbar bittere Erkenntnis, dass man im Westen keinen Pfennig mehr dafür bekam, ein Deutscher zu sein, dass Mitbewerber aus anderen EU-Staaten dieselben Rechte bekamen, einem Bayern ein Österreicher näher steht als ein Mecklenburger. Und dann auch noch Geld für Griechenland? Applaus für Geflüchtete?
Ich konnte mir auch gut vorstellen, wie es zu der Realitätsverweigerung der „Pegida“-Bewegung kam, zur Idee einer betrügerischen Regierung, staatlich gelenkter „Lügenpresse“. Wer in der DDR leben musste, der erlebte einen Staat, der seine eigenen Bürger hinters Licht führen wollte. Der erlebte, dass in den (staatlich gelenkten) Medien schierer Unfug verzapft wurde. Der traute dem Hörensagen unter der Hand mehr als den Fernsehnachrichten. All das steckt noch vielen in den Knochen, und selbst wer erst nach 1990 geboren wurde, kann in seinem Elternhaus in diesen Argwohn hineinwachsen.
Aber Stuttgart lag noch nie in der DDR, dass gelenkte Staatsmedien Unsinn verzapfen, ist hier mehr als 75 Jahre her. Der Argwohn, in einer betrügerischen Diktatur zu leben, ist hier keine Altlast wie vielleicht in manchen ostdeutschen Ländern. Der Argwohn ist neu gebastelt.
Wie damals bei „Pegida“ sind auch die selbst ernannten „Querdenker“ ein Sammelbecken für ein kunterbuntes Dagegensein. Immer wieder wird das bemerkt, als sei es eine große Überraschung: Da laufen Heilpraktiker mit Verschwörungsgläubigen! Der eine ist gegen das Impfen und der andere gegen Juden! Der eine lebt in seiner Fantasie im Deutschen Reich und der nächste in einem mythischen Zauberwald, in dem Zwerge uns vor Corona beschützen! Eher harmlose Spinner, heißt es dann in den Berichten, liefen neben eindeutig rechtsradikalen Marschierern her, und es mache ihnen gar nichts aus. Und dann staunen wieder alle, und man überlegt angestrengt, wie man die harmloseren von den gefährlichen Verquerdenkern trennen könnte.Ich habe vorhin erzählt, wie ich mir einen Reim auf die Motive der „Pegida“-Märsche machte. Das heißt nicht einmal im Ansatz, dass ich Verständnis dafür hatte, dass ich bereit war, das zu tolerieren. Ich war auch nicht der Ansicht, man müsse das Gespräch suchen, ich war nicht der Ansicht, dass die über die „Lügenpresse“-Anwürfe erschütterten Medien der rechten Salatschüssel so viel Aufmerksamkeit geschuldet hätte, wie man sie „Pegida“ zukommen ließ.
Noch weniger Verständnis bringe ich für die „Querdenker“ und ihre Mitläufer auf. Die Realitätsverweigerung mancher Ostdeutscher ist illegitim, fußt aber immerhin in einem realen, selbst erlebten Trauma. Die Realitätsverweigerung der „Querdenker“ fußt auf einem Luxusproblem unserer Gesellschaft.
Wir alle kennen ein Phänomen der digitalen Welt, das man oft als „Echokammer“ oder auch als „Internetblase“ bezeichnet: Weil Suchmaschinen uns für ziemlich einfältig halten, spülen die Algorithmen uns Lieblingsthemen auf den Schirm. Jemand sucht nach Videos über die Scheibenerde, und nach der ersten Dokumentation kommt die zweite und die fünfte, dann kommen die ersten Videos von Wirrköpfen, die wirklich an eine flache Erde glauben, und ruckzuck ist der Bildschirm voll mit Nachweisen dafür, dass wir alle auf einer Scheibe leben. Die Erde ist rund? Im Internet sagen alle etwas anderes! Und dass ich es in der Schule anders gelernt habe: Eine Verschwörung!
Genauso funktionieren alle, ausnahmslos alle Märchen, die jetzt rund um die Corona-Pandemie gesponnen wurden und werden. Über die Inhalte will ich erst gar nicht reden, es ist ebenso dummer wie uralter Mist, manchen Unfug haben Verschwörer schon während der Pest im Mittelalter verbreitet (Juden sind schuld, man entführt kleine Kinder und trinkt ihr Blut). Aber nichts ist so absurd, als dass man nicht im Internet genügen Mitspinner fände, und dann klopft man sich gegenseitig auf die radikalisierte Schulter und spielt sich vor, man sei eine relevante Gruppe: Da! Noch einer mit Aluhut! Jetzt sind wir in der Mehrheit!
Was wir in Stuttgart und Berlin erlebt haben (und wohl in absehbarer Zeit auch am Bodensee erleben werden) ist nichts anderes als die erste Meinungsblase, die es aus dem Internet auf die Straße geschafft hat, ein Triumphmarsch der Einbildung. Dass die Demonstranten eine kunterbunte Mischung sind, dass sie überhaupt keine gemeinsamen Positionen haben – das ist nicht verwunderlich, sondern das notwendige Rezept. Jeder, der auf die Demonstration geht, kann sich einreden, alle anderen unterstützten genau seine Position: Der eine sieht 30 000 Reichsbürger, der andere 30 000 Impfgegner, wieder andere sind stolz, dass noch 30 000 andere da sind, weil sie auch an Feen glauben. Und wenn man sich den Zweck und den Inhalt der Demonstration schon einreden kann, kann man sich die Größe noch besser einreden: Zwei Millionen waren es, besser vier oder acht Millionen. Eigentlich waren alle Deutschen auf der Demo, nur Angela Merkel und ein paar doofe Journalisten blieben zuhause. Ein Gipfel der Selbsttäuschung war sicher das alberne Schwenken von Reichsfahnen vor dem Bundestagsgebäude. Das hatte mit Corona gar nichts zu tun, aber wahrscheinlich liefen in Berlin auch Leute mit, die meinten, man demonstriere machtvoll gegen 5-G-Masten oder die Hundesteuer. Das so verwirrend unzusammenhängende Treffen, es diente jedem Teilnehmer quasi nur als Kulisse für ein Selfie in eigener Sache: Schaut, wie viele hinter mir stehen!
Genau dieses bewusst diffuse, bewusst unkonkrete „Dagegensein“ ist schon bei „Pegida“ das Rezept gewesen. Die „Querdenker“ haben ihre Bandbreite bis an den Anschlag maximiert, was Rechtsradikale, Neonazis und Antisemiten angeht, sogar über den Anschlag hinaus.Genau deswegen fürchte ich, dass alle Appelle an die vermeintlich moderateren Demonstranten, nicht Seite an Seite mit Neonazis aufzulaufen, ebenso gut gemeint wie völlig vergebens sind. Es ist kein Missgeschick, wenn Rechtsradikale auf den „Querdenker“-Demos willkommen sind, es ist genauso beabsichtigt, wie der Sturz nach rechts bei den „Pegida“-Aufläufen beabsichtigt war. Und wie bei „Pegida“ sind auch die Appelle vergebens, man dürfe die armen verwirrten Menschen nicht ausschließen, müsse ihnen gut zureden, ihre Sorgen ernst nehmen…
Nein. Es hat bei „Pegida“ nichts genützt, und es nützt bei den „Querdenkern“ noch weniger. Wie soll man jemanden die Risiken einer Pandemie erklären, wenn er die Pandemie einfach nicht wahrhaben will? Wie soll man ihm Fehler, auch Irrtümer von Wissenschaft und Politik erklären, wenn er an eine fehlerlose, geheime Weltverschwörung glaubt, in der jede Widrigkeit von finsteren Mächten geplant wurde? Wie soll man auf die schlimmen Corona-Folgen in anderen EU-Ländern hinweisen, wenn der Gegenüber nicht in der EU, sondern im Deutschen Reich lebt? Oder in dem Land, in dem die Elfen helfen? Und wie soll ich Sorgen ernst nehmen, wenn die Sorge darin besteht, dass eine diabolische Weltelite Kleinkinder versaftet?
Ich bin Sozialdemokrat. Ich weiß, dass wir zusammen mehr können, als jeder für sich alleine kann. Ich glaube an das Gemeinwesen. Ich glaube an gesellschaftlichen Zusammenhalt und an Solidarität. Was eine wirre Mischung aus Esoterikern und Märchenerzählern, aus Rechtsradikalen und Antisemiten, Verschwörungsschwurblern und zu allem entschlossenen Wichtigtuern nun „Querdenken“ nennt, ist verquer, aber kein Denken. Es ist ein Angriff auf den gesunden Menschenverstand, ein Angriff auf das Gemeinwesen, auf den Zusammenhalt, auf das Miteinander. Es ist ein Aufstand gegen die faktenbasierte Wissenschaft und ein Aufstand gegen die Demokratie.
Die „Querdenker“ sind wenige. Viel weniger als sie selbst meinen. Und auch viel weniger, als wir anderen meinen, weil wir so viel über sie reden und nachdenken. Warum tun wir das? Vielleicht auch, weil so viel Blödsinn uns nicht nur erschreckt, sondern auch ein wenig gruselt.
Was tun wir also mit den „Querdenkern“? Zunächst sollten wir sicherstellen, dass nicht auch wir auf ihre eigene Selbsttäuschung hereinfallen, ihnen mehr Gewicht beimessen, als sie haben. Was wir auf den Demonstrationen sehen, ist ein diffuser Flashmob, mit dem sich hunderte Gruppen und Grüppchen und Tausende Einzelgänger mehr Bedeutung verleihen wollen. Ein gemeinsames Ziel ist nicht einmal annähernd auszumachen. Hier stehen die radikalen Impfgegner, nebenan schwenkt man die Fahne des deutschen Reiches, in dem es übrigens eine Impfpflicht gab. Dass das nicht schon auf den Demos selbst für Zeter und Mordio sorgt, ist ein Beweis für Realitätsverweigerung auch in eigener Sache.
Tatsächlich einheitlich und in der Summe greifbar sind bei den „Querdenkern“ nur die Risiken und Nebenwirkungen für unser Gemeinwesen. Die unbestreitbar kindische Reaktion, sich in Märchen-und Spielwelten wohl zu fühlen, wird dann riskant, wenn erwachsene Menschen sich wie Kleinkinder benehmen. Das müssen nicht nur US-Präsidenten sein, das sind auch all jene, die meinen, sie könnten einfach mit dem Fuß stampfen und „Neineinein!“ rufen, dann wäre Corona einfach weg.
Schließlich müssen wir ein Auge auf all die Feinde unserer offenen Gesellschaft haben, die sich einmal mehr der Empörungskunst bedienen, um sich an ihre Ziele tragen zu lassen. „Pegida“ trug Neonazis durch die Straßen ostdeutscher Städte, die „Querdenker“ trugen Neonazis bis auf die Stufen des Reichstags.
Ich bin mir nicht sicher, ob wir im Sommer 2021 noch über die „Querdenker“ reden werden. Ob sich die Bewegung nicht selbst totläuft, wie es bei „Pegida“ der Fall war. Ob die Lügengeschichten über das Virus nicht genauso in Vergessenheit geraten wie die Lügengeschichten über Flüchtlinge im Jahr 2015 („Einen ganzen Supermarkt haben sie ausgeräumt, aber die Presse und die Polizei halten ja still“).
Ich bin mir inzwischen aber sicher, dass wir uns mit den Akteuren werden auseinandersetzen müssen, denn bei der nächsten Herausforderung für unsere Gesellschaft werden sie wieder querdenken und querschießen. Und mit auseinandersetzen meine ich tatsächlich eine Auseinandersetzung. Denn auch wenn wir verstehen, wie die „Querdenker“ ticken – unser Verständnis haben sie nicht verdient.
Euer
Andreas Stoch