Vielleicht hat noch nicht jeder vom Begriff der „False Balance“ gehört, also der „falschen Ausgewogenheit“. Aber was der Begriff bedeutet, erleben wir zurzeit tagtäglich: Da lassen sich zig Millionen von Menschen impfen, tragen Masken, halten sich an die Sicherheitsregeln. Aber wenn ein winziger Bruchteil der Bevölkerung auf der Straße gegen Masken, Sicherheit und das Impfen demonstriert, beherrscht diese laustarke Randgruppe die Medien. Man redet dann von einer „Spaltung der Gesellschaft“, als gehe dieser Spalt genau durch die Mitte. Dabei heben sich nur ganz am Rand ein paar Späne ab.
Das ist keine böse Absicht, sondern nur ein Automatismus von Medien: Wo jemand „Ja“ sagt, sucht man jemanden, der „Nein“ sagt, denn man will ja ausgewogen berichten. Nur entsteht so der Eindruck, beide Lager seien gleich groß, gleich wichtig. Schon zu Beginn der Pandemie profitierten die Querköpfe der Medizin von diesem Automatismus: 99,9 Prozent der Fachleute waren sich einig über Corona, doch wer dagegen war, bekam ein großes Forum, und man sprach von der angeblich „zerstrittenen“ Wissenschaft. Und danach kamen die Querdenker.
Man kann mir nun vorwerfen, ich machte es nicht anders: Auch ich befasse mich hier mit den Menschen, die ihr Zorn und ihre Wut auf die Straße treiben, die sich in einer Diktatur wähnen, gegängelt von einem böswilligen Staat mit finsteren Absichten. Man solle doch einfach nicht drüber reden, lese und höre ich immer wieder: „Die hören dann schon von alleine wieder auf mit ihrem Spazieren!“.
Ich glaube nicht, dass es so einfach ist.
Richtig ist, dass die „Querdenker“ gar kein echtes Problem sind in dieser Pandemie. Ist es ein Prozent der Menschen, die hinter Corona eine Verschwörung sehen, sind es zwei Prozent? Hätten sich alle anderen Leute impfen lassen, wären wir bei 98 oder gar 99 Prozent Impfquote, niemand würde von einer Impfpflicht reden und die Pandemie wäre erfolgreich abgewehrt. Nein, in der Pandemie ist das Problem momentan jener weit größere Teil der Bevölkerung, der Zweifel hat. Ängste vor dem Impfstoff, Sorgen um Nebenwirkungen, von denen man so viel erzählt. Und wenn die SPD-Fraktion jetzt unter anderem eine große Informationskampagne zum Impfen fordert, dann geht es genau um diese Menschen. Darunter sind auch Leute, die schlicht keine etablierten Medien nutzen. Die keine Zeitung lesen und keine Fernsehnachrichten schauen, die vielleicht überhaupt keine deutschen Fernsehprogramme haben. Ich habe von Leuten gehört, die noch an Weihnachten 2021, fast ein Jahr nach dem Start der Impfungen, folgende Aussagen machten: „Impfen lass ich mich nicht, dafür habe ich echt kein Geld übrig.“ Kein Witz, es gibt Menschen, die so schlecht informiert sind. Und es gibt viel mehr von Ihnen, als es radikale Impfgegner gibt.
Dennoch soll es hier um die radikalen Impfgegner und Verschwörungstheoretiker gehen. Denn das, was hinter den Märchen von der inszenierten Pandemie, dem bösen Staat und der „Lügenpresse“ steht, wird länger andauern als diese Pandemie.
Jeder von uns kann sich an die unseligen „Pegida“-Aufmärsche erinnern. In deren hartem Kern hörte man damals schon krude Verschwörungsmärchen: Merkel will die deutsche Bevölkerung gegen Flüchtlinge austauschen, es kommen Millionen mehr, als die Medien berichten, alles eine perfide Strategie.
Irgendwann hat man von „Pegida“ nichts mehr gehört. Doch der harte Kern war nicht weg, er ruhte sich nur aus. Mit den „Querdenkern“ lief er wieder los: Merkel will die deutsche Bevölkerung per Impfungen auslöschen, Corona ist gar nicht so schlimm, wie die Medien berichten, alles eine perfide Strategie.
Natürlich gilt das nicht für alle, die damals oder heute auf die Straße gingen oder gehen. Natürlich gibt es Ausländerfeinde, die sich impfen lassen. Und es gibt Impfgegner, die in Flüchtlingsheimen geholfen haben. Wahrscheinlich geht es der Mehrheit der heutigen „Spaziergänger“ wirklich nur um die Corona-Maßnahmen.
Doch die, die in diesen Bewegungen das Heft in die Hand nehmen, Organisieren, in sozialen Medien Stimmung machen – denen geht es um mehr. Sie lehnen unseren Staat ab und vielleicht sogar den Staat an sich. Hier finden sich Rechtsextreme und Antisemiten, Reichsbürger und Verschwörungsgläubige. Die Regierung? Eine mafiöse Truppe. Politiker? Alle aufhängen. Zeitung und Fernsehen? Nichts als Lügen. Die Bevölkerung? Unterdrückt und immer von der Auslöschung bedroht. Das ist alles Dreck, aber es stimmt eben leider, dass man nur mit genug Dreck werfen muss, damit irgendetwas hängen bleibt. In diesem Fall an den Mitläufern oder aktuell den „Mitspazierern“.
Man muss gar nicht auf den gröbsten Unfug hereinfallen, damit das Gift zu wirken beginnt. Werden mit der Impfung Chips implantiert? Das glauben sicher selbst unter Querdenkern nur die ganz Verwirrten. Wer aber wieder und wieder eingebläut bekommt, dass alles in Wahrheit ganz anders ist, bekommt doch seine Zweifel. Impfen macht nicht unfruchtbar, sagen die Ärzte. Wir schützen nur die Bevölkerung, sagen die Politiker. Aber sagen die die Wahrheit?
Oft hört man die Sorge, all das schade dem Vertrauen in den Staat. Das würde ich nicht unterschreiben, denn Demokratie braucht mündige Bürger und keine blinde Gefolgschaft. Diskurs, Debatte und sogar Streit um die besten Lösungen gehören unbedingt dazu. Ich habe aber die Sorge, dass diesen Debatten die Diskussionsgrundlage entzogen wird. Natürlich kann man darüber streiten, wie man dieses Land am besten regiert, natürlich kann man diskutieren, wie man der Pandemie am besten Herr wird – nichts anderes machen wir in der Politik. Wer aber bestreitet, dass die Bundesrepublik ein Staat ist, wer in Abrede stellt, dass Corona überhaupt existiert – wer das tut, entzieht sich jedem Austausch von Argumenten, jeder auf Fakten basierten Debatte.
Dieses gefährliche Potenzial hat es immer gegeben, von den einschlägigen Stammtischen bis in die rechtsextremen Wehrsportgruppen der 1970er Jahre. Doch erst mit der aktuellen Kommunikationstechnik wurde dieses Potenzial skalierbar: Desinformation und Hetze lassen sich in Sekundenschnelle hundertfach teilen. Noch nie ließ sich so leicht so viel Dreck werfen. Und irgendetwas wird schon hängen bleiben. Und wir haben es leider erleben müssen: Wer wieder und wieder und wieder zum Mord an Politikern aufruft, wird eines Tages erleben, dass solche Morde geschehen.
Wir haben im Moment sehr viel zu tun in dieser Pandemie: Wir müssen auf die zugehen, die noch nicht verloren sind für Fakten und Vernunft, müssen die überzeugen, die man noch überzeugen kann. Und wenn wir die Pandemie überwunden haben, werden Spaziergänge wieder etwas ganz Idyllisches werden, ohne Polizei und böses Blut.
Dann aber werden wir uns mit diesem kleinen, aber kritischen Potenzial befassen müssen, das Gift in unsere Gesellschaft streut. Mit den Instrumenten, die ihnen eine so übertriebene Lautstärke verschaffen, mit den Schattenräumen, in die sie sich zurückziehen, um nicht mit der überwältigenden Mehrheit der Menschen konfrontiert zu werden. Wir werden viele digitale Sümpfe trockenlegen müssen, manche Blase aufstechen, Fakten gegen Märchen stellen, Kriminelle verfolgen und Aussteigern helfen. Nicht aus Rache, sondern zum Schutz unserer Gesellschaft. Corona werden wir besiegen, aber die Feinde der Demokratie sind immer ansteckend.
Ein Spaziergang wird das nicht. Aber je länger wir warten, desto schwerer wird es.
Euer Andreas Stoch