Lange her, dass es hier etwas Neues gab, aber ich denke, ich muss nicht erklären, warum das so ist. Wahlkampf bis auf den letzten Drücker, dann ein extrem spannender Wahlabend, an dem es immer wieder mal so aussah, als könne es entgegen allen Prognosen doch noch für Grün-Rot reichen. Zittern mit Kolleginnen und Kolleginnen aus der Fraktion, für die es teils traurigerweise nicht mehr in den Landtag gereicht hat. Aber auch Freude mit vielen neuen Kolleginnen und Kollegen.
Und dann natürlich: Die Sondierungen in Stuttgart, die Frage, ob in den kommenden fünf Jahren eine neue Landesregierung möglich ist, eine Ampelkoalition. Und auch das muss ich nicht erklären: Am Ende hat es nicht sollen sein, vor allem der Ministerpräsident hat mit viel Druck und gegen massive Widerstände in den eigenen Reihen eine zweite grün-schwarze Koalition durchgesetzt. Dass ich das für eine vertane Chance halte, für einen folgenreichen Fehler – all das habe ich seither immer wieder öffentlich gesagt. Doch mich ärgert nicht nur das Ergebnis, sondern auch die Begründung. Seit dem Aus der Ampel-Option wird fleißig an einem gefälligen Märchen gestrickt, und zwar von gleich zwei Seiten. Doch deswegen wird das Märchen eben nicht wahrer.
Allein für die Ampel gab es nicht weniger als sechs offizielle Gesprächstermine: Jeweils zweimal sprachen die Grünen getrennt mit SPD und FDP, einmal tauschten sich (in Absprache mit den Grünen) SPD und FDP direkt aus, und zum Schluss gab es eine Dreierrunde mit Grünen, SPD und FDP. An allen Runden, an denen die SPD teilnahm, war auch ich dabei, denn ich habe die Gespräche seitens der SPD geleitet.
Doch was ich seit dem Scheitern der Ampel alles über die Sondierungen gehört und gelesen habe, legt den Verdacht nahe, dass es vielleicht noch parallele Sondierungen gab, von denen niemand wusste? Da reden Grünen-Politiker über die Atmosphäre der Gespräche, die ich bei den Sondierungen gar nicht gesehen habe. Hatten die sich im Schrank versteckt? Und ich höre von angeblichen Differenzen, die einen staunen machen, denn immer wenn ich dabei war, kamen diese Differenzen gar nicht vor…
Im Ernst: Es wird ein Märchen erzählt. Ein ziemlich durchsichtiges Märchen, genährt aus ziemlich durchsichtigen Motiven. Es ist das Märchen von der FDP, die so gar nicht zu den Grünen gepasst haben soll. Und es ist ein Märchen, das nicht nur die Grünen erzählen, sondern mit zunehmendem Elan auch die FDP selbst.
Tatsächlich waren wir alle ziemlich überrascht, wie harmonisch alles lief bei den Sondierungen. Nicht nur zwischen den Grünen und der SPD, das war relativ absehbar gewesen: Große, wirklich große Programmteile zu Umwelt und Klima wurden fast im Vorbeigehen abgehakt, weil es hier fast vollständige Übereinstimmung gab. Oder wie es einer der grünen Spitzenverhandler ausdrückte: „Selbst wenn uns die CDU hier extrem entgegenkommt, sind die noch nicht da, wo Ihr schon immer wart“.
Nein, auch mit der FDP verliefen die Gespräche harmonisch, die Liberalen zeigten sich extrem geschmeidig. Das sagten sie während der Sondierungen ja auch: „Keine unüberbrückbaren Unterschiede“ und so weiter. Das entsprach den Tatsachen. An vielen Punkten, an denen wir mit harten Auseinandersetzungen gerechnet hatten, ging es ganz flott, konstruktiv und pragmatisch voran. Wir waren wirklich zuversichtlich, auch dieser Eindruck während der Sondierungen war keinesfalls vorgespielt. Es sah gut aus. Wirklich gut.
Und es gab eben NICHT jene angeblich so massiven Probleme zwischen Grünen und FDP, von denen jetzt erzählt wird. Mir ist klar, warum die Grünen das erzählen: Die Parteibasis ist größtenteils immer noch verstört darüber, dass man nach fünf frustrierenden Jahren mit der dauerbremsenden CDU nicht endlich die Chance ergriff, eine progressivere Regierung zu bilden. Und weil niemand ein Märchen von der nicht kompatiblen SPD glauben würde, erzählt man eben ein Märchen von der nicht kompatiblen FDP. Das beruhigt enttäuschte Grüne und lässt Kretschmanns Entscheidung für ein grün-schwarzes „Weiter so“ alternativlos erscheinen.
Und die FDP ist blitzschnell in den Oppositionsmodus gewechselt. Wenn die CDU den Grünen bis an den Rand der Selbstverleugnung entgegenkommt, dann fängt man enttäuschte Konservative am besten mit dem Märchen ein, nur die FDP hätte liberalen Marktkult mit schimmernder Rüstung gegen Klimaspinner verteidigt. Das stimmt hinten und vorne nicht, aber die allermeisten Menschen im Land waren bei den Sondierungen nicht persönlich anwesend und lassen sich viel erzählen. Und man kann die Geschichte ja elegant von hinten her umdeuten: Es wurde ja nichts mit der Ampel, deswegen muss es ja an der FDP gelegen haben und ihrem Heldentod für konservative Programme. Dass die FDP selbst während der Sondierungen ganz anders tönte? Ach, zwei Wochen her, schon wieder vergessen. Und die Grünen sagen es ja auch so. Muss ja stimmen, oder?
Mich ärgert dieses Märchen sehr, mindestens genauso wie die falsche, die mutlose und schlechte Entscheidung für ein „Weiter so“. Mindestens genauso wie das ungeheuerlich autoritäre Verhalten von Winfried Kretschmann, der über große Teile seiner eigenen Partei hinwegbestimmt und dabei rein subjektiven Impulsen folgt wie seiner persönlichen Zuneigung zu Thomas Strobl, der immer so folgsam nickt, wenn der Ministerpräsident spricht.
Die Ampel für Baden-Württemberg ist nicht daran gescheitert, dass man die Ziele von Grün, Rot und Gelb nicht zusammengebracht hätte. Sie scheiterte daran, dass Winfried Kretschmann zwei potenzielle Partner vor sich sah, die gewillt waren, fast alle grünen Ziele mit Elan und Energie und Kompetenz mitzuverfolgen – die aber außer Pandemiebekämpfung und Klimaschutz noch weitere Ziele hatten, die sie für nötig hielten. Die noch mehr wollten. Die es noch schneller wollten.
Das war Winfried Kretschmann offenbar zu viel. Dass die CDU artig versprach, dass sie nicht mehr so arg bremst, war ihm genug. Dass Koalitionspartner kräftig mit anschieben könnten, war ihm nicht willkommen, sondern unheimlich.
Manche Leute fragen mich, ob die Sondierungen mit SPD und FDP wirklich ernst gemeint waren oder nur ein Manöver, um die CDU so tief wie möglich in die Knie zu zwingen. Ganz ehrlich: Bei fast allen grünen Gegenübern bin ich davon überzeugt, dass es ernst gemeint war und echter Wille zu einer neuen Regierung da war. Und ganz ehrlich: Bei Winfried Kretschmann bin ich mir nicht mehr sicher.
Was bleibt? Wir gehen in fünf Jahre, in denen Baden-Württemberg einen ganz schön schweren Weg vor sich hat: Pandemie und Pandemiefolgen, aber auch all die Aufgaben, die uns in Wahrheit nie verlassen haben: Transformation der Wirtschaft, Wohnungsnot, Verkehrswende, bessere Bildung, Erhalt guter Arbeitsplätze, natürlich Klimaschutz, natürlich der Erhalt einer solidarischen Gesellschaft. Es gibt so viel zu tun, und wir werden weitere fünf Jahre aus der Opposition heraus mahnen, vorschlagen, auf Probleme aufmerksam machen. „Mehr Tempo“ werden wir rufen oder „Vorsicht Kurve“ oder „Hier müsst Ihr abbiegen“. Und das bei einer Regierungskoalition, die nicht nur so schlecht sieht, sondern auch so notorisch schwerhörig ist.
Es wäre besser für das ganze Land, wenn wir mit am Steuer wären. Stattdessen werden wir weiter rufen. Und man wird uns noch einige Märchen erzählen.
Euer Andreas Stoch