Wie fängt man an mit einem Blog in diesen Zeiten? Am besten mit dem Wichtigsten: Ich hoffe, Ihr seid alle gesund und munter, mindestens so gesund und munter wie ich. Ich kann mich nicht beschweren: Wir sind zu sechst im Haus, von sozialer Isolation kann also keine Rede sein bei mir. Und auch wenn ab und zu schon ein wenig Lagerkoller um die Ecke winkt, haben wir ausreichend Platz und sogar noch einen hübschen Garten außenherum.
Dass so gut wie keine Auswärtstermine mehr im Kalender stehen, fühlt sich immer noch unwirklich, aber dann auch nicht nur unangenehm an. Und zu tun gibt es mehr als genug: Politik klappt auch auf Distanz, am Telefon, mit E-Mails oder auch Briefen, per Nachricht aufs Handy, in Videoschalten.
Verdienstausfälle hat man als Abgeordneter auch nicht, weshalb wir in der SPD-Fraktion beschlossen haben, auf die anstehende Diätenerhöhung für Abgeordnete zu verzichten oder sie zu spenden. Uns geht es ganz schön gut, das dürfen wir nicht vergessen. Mit geht es auch ganz schön gut, und das vergesse ich nicht.
Unter uns und ganz offen: So ein Blog soll ja keine Pressemitteilungen oder Interviews aufwärmen. Ich will hier ein paar Gedanken anbringen, die mich zurzeit umtreiben. Jeden Tag und manchmal auch nachts. Das ist vielleicht nicht der Politsprech, den man sonst (auch von mir) gewöhnt ist, und vielleicht ist das manchmal auch ganz persönlich.
Aber ehrlich: Warum soll jemand, der politische Entscheidungen trifft, so tun, als sei er ein Robote, der jeden Morgen aufsteht und auf alles die perfekten Antworten hat?
Natürlich wird mein Denken gerade von der Frage beherrscht, wie die Gesellschaft, wie wir alle Corona in den Griff bekommen können.
Und ja, Idioten gibt es viele, aber wir merken in diesen Tagen, dass es zum Glück viel weniger sind, als wir befürchtet haben. Im Netz kursieren die üblichen kruden Verschwörungstheorien, und Legionen an Rechthabern wissen, wie es in Wahrheit um die Welt bestellt ist. Doch auf der Straße, im wirklichen Leben, erkennen wir die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse: Wir halten uns an die Auflagen, wir halten zusammen, wir respektieren die Meinung der Fachleute. Die betonen selbst, dass sie viele Zusammenhänge nur abschätzen können, dass sie auch Fehler machen. Aber wir begreifen, dass diese Einschätzungen die besten sind, die wir momentan bekommen können.
Und anders als die Netzkrakeeler behaupten, halten wir die Regeln eben nicht deswegen ein, weil wir dazu gezwungen werden. Es gibt nicht annährend genug Polizistinnen und Polizisten, um neben jedem Bürger herzulaufen und ihn zu kontrollieren. Das ist aber auch gar nicht nötig. Wir halten uns aus Vernunft an die Regeln. Weil wir vernünftig sind, sind die Regeln bei Weitem nicht so einschneidend wie in anderen Staaten. Und unser Verhalten zeigt trotzdem Wirkung, was die Pandemie angeht. Das ist ein großer Erfolg, und es ist unser aller Erfolg.
Wir vertrauen auf unseren Staat, und auch ich tue das. Klar, ich wäre kein Oppositionsführer, wenn ich nicht die eine oder andere Anregung hätte, wenn ich nicht der Meinung wäre, man könne hier ein wenig mehr und dort ein wenig schneller helfen. Natürlich bin ich der Meinung, dass die SPD auch in diesen Tagen immer noch etwas bessere Lösungen parat hätte. Würde ich das nicht meinen, hätte ich den falschen Job.
Aber ich glaube ehrlich daran, dass auch unsere Regierungen versuchen, das Bestmögliche zu tun. Ich vertraue darauf, dass es ihnen darum geht, die Gefahren der Pandemie so gut wie möglich zu bannen, dass sie hart daran arbeiten, so viele Menschen wie nur möglich vor den Risiken zu schützen. Das gilt für Angela Merkel, das gilt auch für Winfried Kretschmann. Ich vertraue auf ihren guten Willen. Und ich glaube, dass fast alle von uns so denken.
Genau deswegen verstehe ich aber nicht, dass jetzt Überlegungen über eine besonnene, schrittweise Lockerung der Auflagen als Frevel abgetan werden, zuletzt auch von der Bundeskanzlerin. Selbst Fragen, wie eine solche Rückkehr in Richtung Normalität denn grundsätzlich aussehen könnte, wollte sie nicht beantworten. Das komme alles zur Unzeit, hat sie gesagt.
Ganz ehrlich, das halte ich für falsch. Wir haben erleben müssen, welche Schwierigkeiten uns ein Ausnahmezustand gemacht hat, auf den wir an vielen Punkten nicht vorbereitet waren. Das ist verzeihlich, denn niemand wusste, dass ein solcher Ausnahmezustand kommen würde (und die, die jetzt sagen, sie hätten es alles gewusst: Setzt Euch, habt Recht und wir anderen unser Ruhe).
Doch jetzt wissen wir, dass die Pandemie ein Ende haben wird, früher oder später. Und wir wissen, dass wir zu mehr Normalität zurückkehren werden, früher oder später. Was kann daran falsch sein, sich jetzt über Vorbereitungen Gedanken zu machen? Über die richtigen Strategien? Und zwar nicht in abgeschotteten Krisenstäben, sondern öffentlich?
Die Befürchtungen der Regierungen sind bekannt: Finge man an, öffentlich über Lockerungen zu reden, so die Angst, dann werde die Bevölkerung die Auflagen nicht mehr ernst nehmen, sie über Nacht vergessen.
Ich kann diese Befürchtungen verstehen, aber teilen kann ich sie nicht.
Nehmen wir die Schulen: Würde das Kultusministerium jetzt öffentlich darüber diskutieren, dass man, wenn es soweit ist, den Unterricht in bestimmten Klassen wieder anlaufen und dann schrittweise in andere Jahrgänge ausdehnen würde, würden doch nicht morgen die ersten Schüler vor den Schulen stehen und an den Türen kratzen. Wohl aber hätten Hunderttausende Familien die Möglichkeiten, sich Gedanken über die Rückkehr zu machen: Unsere Große wird wieder in die Schule gehen, der Kleine aber noch länger zuhause bleiben müssen. Wie organisieren wir das?
Genauso in der Wirtschaft: Würde man jetzt offen darüber reden, unter welchen Voraussetzungen und Auflagen welche Läden wieder öffnen könnten, hätten die Inhaber die Möglichkeit, sich ein wenig darauf einzustellen: Wäre ich schon bei den ersten Läden dabei? Müsste ich länger warten? Bräuchte ich Absperrungen, mehr Platz, Wartebereiche? So etwas zu organisieren, kann dauern. Zeit, die wir jetzt hätten und die alle jetzt nützen könnten. Aber es soll nicht sein. Warum nicht?
Ich verstehe das nicht. Im offiziellen Regierungssprech scheint das Wort „Normalität“ ein Tabu zu sein – selbst wenn es um eine langfristige Strategie geht, bei der jeder weiß, dass sie nicht von heute auf morgen erfolgen wird. Und auch gar nicht erfolgen kann.
Und ich ärgere mich ein wenig. Denn während es den Menschen in diesem Land sozusagen per Dekret verboten wird, selbst über kleinste Schritte zur Lockerung des Ausnahmezustands öffentlich nachzudenken, ist der eine oder andere in der Regierung offensichtlich zu einer unguten Normalität zurückgekehrt: Dem Bürger kann man nicht über den Weg trauen. Als die Pandemie über uns hereinbrach, mutete man der Bevölkerung, der Wirtschaft, dem Gesundheitswesen einschneidende Auflagen zu und hoffte auf Vernunft. Diese Hoffnung wurde nicht enttäuscht, darauf dürfen wir alle stolz sein.
Woher und warum also nun dieses merkwürdige Misstrauen? Wer glaubt denn ernsthaft, allein schon eine Debatte über den richtigen Weg zurück werde dafür sorgen, dass die Menschen morgen sorglos in den Straßen tanzen?
Niemand weiß, wie lange die gegenwärtigen Auflagen noch dauern werden. Doch jeder weiß, dass sie eines Tages wieder gelockert werden können. Sich darauf einzustellen, darüber zu reden und diese Rückkehr in aller Ruhe vorzubereiten, kommt nicht zu früh und schon gar nicht zur Unzeit. Das sehen inzwischen auch viele Wissenschaftler so, die Leopoldina voran.
Unser Staat hat in der Krise bisher gut und nach bestem Wissen und Gewissen agiert. Die Menschen in unserem Land haben das aber auch getan, und wenige Ausnahmen ändern daran gar nichts.
Unser Staat hat das Vertrauen der Menschen verdient.
Aber die Menschen verdienen auch das Vertrauen des Staates!
So lange die Pandemie nicht ernsthaft unter Kontrolle ist, können wir nur hoffen. Aber wie wir uns danach am besten Verhalten werden, können wir jetzt schon besprechen. Öffentlich, gemeinsam mit allen.
Wir sollten es auch.
Euer Andreas Stoch