Ihr kennt das? Hoffentlich kennt Ihr das. Manchmal faszinieren einen Kleinigkeiten, Beobachtungen am Rande, weniger wichtige Details. Du weißt, dass diese Dinge nicht wirklich wichtig sind, aber sie beschäftigen Dich trotzdem sehr. Mir geht das nicht anders.
In der jüngsten Ausgabe der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ geht Redakteurin Friederike Haupt auf die Unterschiede zwischen Virologen und Politikern ein (wer es nachlesen will: Seite 8 „Meinung“). Nicht jeder hat das Blatt zuhause, ich will es deswegen kurz nacherzählen.
Friederike Haupt stellt fest, dass Politiker statistisch zu den am wenigsten geachteten Berufsgruppen dieser Nation zählen. Sie widersprechen sich ständig. Sie sind so eitel! Sie hadern mit den Medien! Es geht ihnen nur ums Rechthaben! Pfui.
Am anderen Ende der Liste, ganz oben in der Anerkennung, stehen die Wissenschaftler, sagt Friederike Haupt. Die Forscher, die Professoren, die Ärzte. Die reden sachlich, ruhig, vertrauenswürdig, nur an Fakten orientiert. Es sind Lichtgestalten im öffentlichen Diskurs, meilenweit über den Schlammschlachten der Tagespolitik. Ach, hätten solche Leute das Sagen bei uns, statt der miesen Politiker!
Frau Haupt stellt nun fest, dass gerade Virologen zurzeit tatsächlich mindestens ebenso im Rampenlicht stehen wie Politiker. Sie werden von Journalisten umlagert, man sendet, zitiert und speichert jede ihrer Äußerungen, lädt sie in Talkshows ein, in Podcasts, zu Telefoninterviews.
Und siehe da: Es geht den Virologen nicht anders als den Politikern: Ihre Aussagen werden verkürzt, zusammengeschnitten, im Mediengeschäft zugespitzt und einander gegenübergestellt. Und es werden auch völlig unsachliche Maßstäbe angelegt: Wer sieht gut aus, wer hat die bessere Frisur, die schönere Stimme? Wer hat die Nachricht, die tröstlicher klingt? Und vor allem: wer widerspricht wem in möglichst markanter Weise?
All das, sagt Friederike Haupt zu Recht, führt zu einem gespenstischen Effekt: Je mehr man Mediziner, je mehr man Virologen behandelt wie Politiker, desto mehr wirken sie auch so: Sie widersprechen sich ständig. Sie sind so eitel! Sie hadern mit den Medien! Es geht ihnen nur ums Rechthaben! Pfui?
Ich finde, Friederike Haupt hat da einen wunden Punkt getroffen. Denn tatsächlich wirken Wissenschaftler auch (nicht nur!) deswegen seriöser, weil man ihnen üblicherweise mehr Raum, mehr Zeit widmet. Sie dürfen komplexe Sachverhalte ausführlicher erläutern, dürfen relativieren, dürfen sich detaillierter erklären. Lässt man ihnen diese Zeit nicht, leidet die Wirkung, erscheinen die Akteure plötzlich widersprüchlicher, weniger kompetent, vermeintlich nur im Streit begriffen. Auch mit den Medien: Von prominenten Virologen wie Christian Drosten, Alexander Kekulé oder Hendrik Streeck sind jüngst auch allerhand kritische Anmerkungen zum Medienbetrieb überliefert.
Ich bin kein Freund pauschaler Medienkritik, erst Recht nicht in diesen Zeiten. Gerade die „klassischen“ Medien, Zeitungen, Fernsehen und Radio haben sich sehr viel Mühe gegeben, uns alle ausgewogen und korrekt zu informieren. All das blieb nicht nur meilenweit entfernt von dem Unfug, den man im Internet finden kann. Es blieb auch meilenweit entfernt von dem Blödsinn, den man in anderen Ländern lesen und sehen kann, seien es die USA oder Russland, Ungarn oder Polen.
Klar ist aber auch: das Beispiel der Virologen zeigt, dass man jede Profession medial so verkürzen und zuspitzen kann, dass sich der Eindruck eines unwürdigen Sandkastenstreits aufdrängt. Das wird den Medizinern nicht gerecht.
Den Politikern aber auch nicht.
Und damit zurück in die Politik: Je mehr wir alle darauf hoffen dürfen, dass wir die Pandemie irgendwie in den Griff bekommen und langsam und vorsichtig, aber doch Schritt für Schritt wieder in die Normalität zurückkehren können, desto deutlicher wird klar, dass wir erst anfangen, die wirtschaftlichen Schäden des Coronavirus zu erkennen. Als Sozialdemokrat bin ich von Natur aus kein Pessimist, doch wenn ich lese, welche Folgeschäden uns ins Haus stehen könnten, wird auch mir Angst und bange. Große Pleitewellen könnten die Folge sein, eine Rezession, enorme Einbrüche in der Wirtschaft. Und der Verlust von hunderttausenden Arbeitsplätzen.
Schon jetzt hat der Staat gewaltige Mengen Geld in die Hand genommen, um gegenzusteuern. Wir reden von Milliarden, wie wir sonst von Millionen reden. Und wenn ich mit Leuten rede, bekomme ich auch allerhand Rückmeldungen, dass die Hilfen wirklich fließen. Ja, hier und da hakt es noch ein wenig, aber andere berichten, wie schnell und unproblematisch sie das Geld bekommen haben, das sie so dringend brauchen, um sich über Wasser zu halten. Gut so.
Was nicht gut ist: Je mehr wir (hoffentlich auf Dauer!) nicht mehr auf die akute Gesundheitsgefährdung, sondern auf die wirtschaftlichen Schäden der Pandemie schauen, desto mehr rutschen manche Politiker wieder in ihr gewohntes Fahrwasser zurück. Fragt man sie, wie der Staat den Ruin zigtausender Betriebe verhindern kann, öffnen sie den Mund, und das Wort „Steuersenkung“ rutscht heraus.
Das ist falsch.
Was wir alle erlebt haben, ist die Tatsache, dass ein völlig ungelenkter Markt nicht nur daran scheitert, die Bedürfnisse der Allgemeinheit zu befriedigen. Der ungelenkte Wohnungsmarkt sorgt nicht für bezahlbares Wohnen, eine rein private Eisenbahn nicht für vernünftigen Zugverkehr und eine rein private Telekommunikation nicht für anständiges Internet auch auf dem Land.
Noch mehr haben wir erlebt, wie und wo der rein private Markt in Zeiten von Corona an seine Grenzen stößt: Es fehlt an Gesichtsmasken, an Desinfektionsmitteln, an Schutzkleidung, in anderen Ländern auch an dringend notwendigen Beatmungsgeräten. Und alle, alle rufen nach dem Staat. Zu Recht, sage ich. Der Staat ist der Vertreter der Allgemeinheit, er dient uns allen und wir zahlen Steuern, um ihm die nötigen Mittel an die Hand zu geben.
Wir haben erfahren, dass es ein Irrtum war, den Staat immer weiter zurückzudrängen, wie es die neoliberale Politik seit der Ära Kohl gefordert und leider auch umgesetzt hat. Unser Land wurde auf soziale Marktwirtschaft gegründet, auf einen guten, klugen Kompromiss zwischen freiem Markt und staatlicher Handlungsfähigkeit. Was wir wurden, was wir sind, verdanken wir diesem Modell, das auch für eine Solidarität der Gesellschaft steht: Wer mehr hat, gibt mehr, damit alle gut leben können.
Es ist also schon traurig, wenn Politiker jetzt schon wieder nach allgemeinen Steuersenkungen rufen, natürlich vor allem für Unternehmen.
Wozu? Wer in der Krise Umsatzeinbrüche erlebte, wird auch deutliche Gewinneinbrüche vermelden müssen. Damit zahlt er weniger Steuern als sonst, ganz automatisch. Oft habe ich den Eindruck, als hätte viele Neoliberale das Steuersystem gar nicht begriffen.
Pauschale Steuersenkungen jedoch entlasten nicht nur die Betriebe in der Krise, sondern auch jene, die durch Corona gar keine Einbußen hatten (und ja, die gibt es durchaus). Mehr noch: Sie entlasten auch die Betriebe, die durch Corona sogar höhere Gewinne machten als sonst (auch das gibt es).
Ich kann nur den Kopf schütteln über diese Haltung, die allenfalls mit einer extremen Störung des Kurzzeitgedächtnisses erklärt werden kann: Heute rufe ich nach der Feuerwehr, weil mein Haus brennt, morgen erkläre ich, die Feuerwehr sei zu teuer und brauche gar kein Löschfahrzeug.
Steuer hat nicht nur sprachlich etwas mit dem Steuer zu tun, an dem man steuert, lenkt und gegenlenkt, wenn es nötig ist. Schon jetzt, nach nur wenigen Wochen des Ausnahmezustands, erfahren wir von Missbrauch hier und Fehlern dort. Wir hören, wer zu viel und wer zu wenig oder gar keine Hilfe bekam. Wir werden zunehmend erkennen, was wo falsch läuft.
Dann müssen wir gegensteuern, die Dinge zum Guten wenden, lenken. Und es wird mindestens so viel Geld brauchen wie für die ersten Nothilfen, das scheint klar. Warum um Gottes Willen sollte der Staat also jetzt auf Geld verzichten, das ihm zusteht? Auf Steuern, die in altbewährter Routine an die Einkommen und Gewinne angepasst sind? Auf Steuern, die Bürger und Betriebe doch ohnehin schonen, wenn sie weniger verdient haben?
Viele, viele Politiker, welche die soziale Marktwirtschaft jahrelang als „Umverteilungsmaschine“ diffamiert haben, haben zuletzt sehr laut nach dem Staat und seiner Umverteilung gerufen. Ich hatte gehofft, dass sie etwas gelernt haben daraus. Umso mehr ärgert es mich, wenn ich jetzt schon wieder die Platituden von der pauschalen Steuersenkung höre.
Manche Politiker lassen sich hier wohl wieder und wieder von falschen Ideen anstecken.
Ich weiß nicht, ob Virologen da helfen können.
Euer
Andreas Stoch